süßholzwurzelsirup-und-zitronengras

Erlebnisse

Süßholzwurzelsirup und Zitronengras

 

Als ich den Ort der Stille betrat, krümmte sich der große braune Bär vor Schmerzen auf dem Boden. An seiner Seite lag treu sein Freund, der weiße Löwe, der voller Anteilnahme nicht von ihm wich. Im selben Moment wusste ich, dass der Ursprung allen Übels ein Magengeschwür war, welches den Bären so sehr quälte. Ich kniete vor ihm nieder und streichelte liebevoll über den dicken braunen Kopf. Unter meinen Händen spürte ich die glühende Hitze und stellte fest, dass er hohes Fieber haben musste. Voller Sorge begann ich, meine Hände auf seinen Bauch aufzulegen. Die Heilenergie begann sofort zu fließen und meine Hände wurden genau dorthin geführt, wo Blockaden gelöst werden wollten. Ich kniete auf dem uralten Dielenboden des noch viel älteren Raumes, welcher sich in dem noch viel älteren Baum befand. Dem Baum, der die Welten miteinander verbindet und mir seit vielen Jahren Ort der Zuflucht ist, wenn ich einen Schritt zur Seite trete und mich in die Stille begebe.

Als ich so dakniete und meine ganze Aufmerksamkeit und Liebe dem Bären gewidmet war, ertönte plötzlich ein „Plopp“. Es hörte sich an, wie ein kleiner, jedoch sehr deutlicher Knall. Ich schaute über meine linke Schulter, wobei mein Blick Richtung Boden gezogen wurde. Dort sah ich ein kleines Wurzelweiblein. Ich würde sagen, dass sie ungefähr die Größe einer Bierflasche hatte (bitte entschuldige den Vergleich, liebe Enva) und von molliger Statur war. Sie trug ein taubenblaues, dreckiges Kleidchen mit weißen Längsstreifen, darüber ein weißes, etwas schmutziges Schürzchen. Eine ehemals weiße, schmuddelige Bluse unter den taubenblauen Trägern des Kleides setzte ihren Busen gekonnt in Form und ein altes, silbernes, mit Schnörkeln verziertes Amulett, welches an einer groben Silberkette hing, klebte förmlich direkt in ihrem Ausschnitt. Im Vergleich zu ihrem kleinen, gedrungenen Körper, war das Weiblein im Besitz ziemlich großer Füße. Diese lugten, ohne jemals dem Versuch erlegen gewesen zu sein, sie zu vertuschen, unter dem Saum des Kleidchens hervor – braun und behaart. Ebenfalls braun, vergleichbar mit viel zu intensiver Sommerbräune, war auch der Rest ihrer sichtbaren Haut, die, trotz dass sie runzelig und faltig aussah, sehr frisch erschien. Das ganze Wesen wirkte überaus frisch und lebendig und so blieb mein Blick in ihrem wundervollen, uralten, freundlichen Gesicht hängen. Braun wie Mutter Erde und Wurzelwerk – es ließ sich nicht leugnen, wo dieses Weiblein lebte – strahlte sie mich an! Ein breites, freundliches Grinsen und eine ziemlich große, dicke Knubbelnase mit riesengroßen Nasenlöchern machten ihr Gesicht aus. Dazu silbergraue, buschige Augenbrauen, Falten über Falten und strahlende, mal blaue, mal pechschwarze Augen, die mir wie der Schalk entgegenblitzten – das sind bis heute meine Erinnerungen an Enva, von der ich sofort wusste, dass sie so hieß.

Enva mit den großen Ohren und den langen Ohrläppchen, dem zerzausten, silbergrauen Haargewirr auf dem Kopf, den schrumpeligen, viel zu großen Händen mit den langen, knochigen Fingern, die an die Wurzeln der Bäume erinnern. Mit diesen Fingern umschloss sie fest ein gläsernes, braunes Medizinfläschchen. Es dauerte ungefähr den Bruchteil einer Sekunde, während dem wir uns beide registrierten. Und schon wetzte Enva los, das braune Fläschchen fest an ihr Herz gedrückt, Richtung meinem Freund, dem Bären. Nach einigen Schritten wurde sie so schnell, dass man nur noch ein Zischen und einen graublauen Schatten wahrnahm. So wechselte sie fast zeitlos von A (dem Ort ihres plötzlichen Erscheinens) nach B (hin zu meinem Freund, dem Bären). In der Tat legte Enva ungefähr zwei Meter zurück, bis sie sich direkt zu meiner Rechten, beim Kopf des Bären, einfand. Seufzend und eindeutig besorgt verschaffte sie sich einen Überblick über die Sachlage, indem sie den fiebrigen Kopf des Bären und seine geröteten Augen in Augenschein nahm. Schließlich zog sie, mit enormem Kraftaufwand ihres linken Armes, die Lefze des Bären nach oben, was sein ziemlich bedrohlich wirkendes Gebiss freilegte. In keinster Weise davon abgeschreckt öffnete Enva geschickt das Medizinfläschchen mit ihrer rechten Hand, während ihre Linke weiterhin die Lefze nach oben stemmte. Speichel tropfte in langen Fäden auf den Boden, doch mein Freund der Bär war viel zu erschöpft, um von alldem etwas mitzubekommen. Ruckzuck entleerte Enva den kompletten Inhalt des Fläschchens in das Maul des Bären. Wie auch immer sie es geschafft hatte – ich fühlte von außen, wie ein heilsamer, süßer und dickflüssiger Saft das Bärenmaul erfüllte, welcher warm und würzig die Speiseröhre hinabrann. Ich blickte in Envas Gesicht und fragte: „Was ist …?“ „Süßholzwurzelsirup“ war die Antwort, noch bevor ich meine Frage zu Ende stellen konnte. Enva schaute mich dabei mit gerunzelter Stirn und fragenden Augen an, als sei sie völlig perplex darüber, wie ich eine solche Frage überhaupt stellen konnte. Logischerweise konnte es sich ja nur um Süßholzwurzelsirup handeln! Während ich ihre Mimik wahrnahm, verschwand Enva mit dem gleichen „Plopp“, mit welchem sie soeben erschienen war, um im nächsten Moment wieder an selbiger Stelle mit leisem Knall aufzutauchen, diesmal mit einem Bund Gras unter dem rechten Arm. „Zitronengras“, warf sie ein, noch bevor ich fragen konnte, um was für ein Mittel es sich dieses Mal handelte. „Er hat hohes Fieber. Das wird ihm bald helfen. Er wird schlafen und morgen geht es ihm besser“. Während Envas Erklärung in meinem Geiste ankam, stopfte sie, wieder mit der linken Hand die Lefze des Bären nach oben stemmend, mit ihrer Rechten den ganzen Bund Zitronengras in sein Maul, direkt zwischen seine Zähne. Ich war erstaunt, wie viel Kraft dieses kleine Weiblein aufbrachte, um ihr Werk zu erfüllen. Nach getaner Arbeit drehte sich Enva zu mir herum und schaute, mit freundlichen dunklen Augen und einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, zu mir hinauf. „Morgen geht es ihm besser“, wiederholte sie ihre Botschaft voller Zuversicht, und verschwand mit sanftem Knall und leisem Plopp auf der Stelle. Zurück blieben der Bär, den es vor Frost und Hitze schüttelte, der weiße Löwe, der wachsam und langgestreckt hinter dem Rücken des Bären lag, und ich – zutiefst berührt von dem eben Wahrgenommenen.

Ich schaute auf den Bären. Er stöhnte leise bei jedem Ausatmen und fieberte durch seine Träume. Hitze und Kälte gingen gleichzeitig von ihm aus, und so lag er da, in seinem Dornröschenschlaf. Eine ganze Weile noch blieb ich bei ihm, beobachtete ihn, streichelte über seinen wunderschönen Bärenkopf und hüllte ihn in Licht, Liebe und Heilung. Sein Schlaf wurde ruhiger. Sein wildes Herz fand zurück in sein kraftvolles, gleichmäßiges Klopfen. Hitze und Kälte vermischten sich, taten sich zusammen und wurden allmählich zu Wärme. Alles beruhigte sich. Die ganze aufgewühlte Situation fand friedlich in ihre Ruhe, wie ein tobendes Meer, dessen Wogen sich langsam wieder glätten und am Ende kleine Schaumkrönchen tragen, die im Licht der Morgendämmerung zerplatzen.

Ich verließ meinen Ort der Stille und kehrte zurück ins Hier und Jetzt. Während ich die halbe Nacht am Krankenlager meines Freundes, dem Bären, verbracht hatte, waren in menschlicher Zeit ca. 20 Minuten vergangen. Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr. Ich dachte an Enva. Sie war so wirklich! Ich sah sie sofort genau vor mir: das zerzauste, silbergraue Haar, die großen Füße, ihr schmuddeliges, gestreiftes Kleidchen mit der einst weißen Schürze und ihre vor Schalk und Lebendigkeit blitzenden, warmen Augen! Enva! Sie trug ein Medizinfläschchen mit Süßholzwurzelsirup … und dann holte sie Zitronengras! Verrückt. Zwei Dinge, um die ich mir mein Leben lang noch nie Gedanken gemacht hatte! Den Bären plagte ein Magengeschwür! Das war klar. Aber er würde wieder gesund werden. Enva war zuversichtlich. Sie sendete mir eindeutig das Gefühl von „Alles wird gut“, bevor sie verschwand. Das beruhigte mich, denn auch geistige Wesen können vergehen. Süßholzwurzelsirup und Zitronengras. Was sollten diese beiden mich lehren? Ich nahm mein Handy zur Hand, ging online und sprach „Süßholzwurzelsirup Heilwirkung“ in die Suchmaschine. Sofort wurde ich fündig und starrte mit offenem Mund aufs Display. Folgende wesentliche Auszüge aus dem Text, den ich dem Internet entnehme (www.docjones.de, Zitat vom 15. Januar 2017), möchte ich an dieser Stelle wiedergeben:

 

„Alles zur Heilpflanze

[…]

Auf einen Blick:

Süßholzwurzel

Wirkt: entzündungshemmend, auswurffördernd, schleimlösend, gegen Viren und Bakterien, schleimhautschützend, fördernd auf die Abheilung eines Magengeschwürs, antioxidativ

Kann eingesetzt werden: bei Entzündungen der oberen Luftwege, gegen Magen-Darmgeschwüre, bei Magenschleimhautentzündung

[…]

Heilungsfördernd bei Geschwüren im Magen und Zwölffingerdarm“

Trotz der mittlerweile späten Stunde war ich mit einem Schlag wieder hellwach. „Zitronengras Heilwirkung“ sprach ich in mein Handy und der Runde Kringel in der Mitte des Displays, der das Laden einer Seite anzeigt, begann sich erneut zu drehen. Auch hier wurde ich fündig und entnehme Textauszüge dem Internet (www.gesunde-hausmittel.de, Zitat vom 15. Januar 2017):

 

„Zitronengras

[…]

In Südostasien nennt man es auch Fieberkraut womit klar ist, dass es nicht nur für die Küche gut ist, sondern dass es auch ein starkes Heilkraut ist.

[…]

Wo Zitronengras eine heilende Wirkung hat [, bei:, Anmerkung der Verf.]

  • Fiebrigen Erkrankungen
  • Krankheiten der Haut
  • Infektionen im Mund- und Rachenraum
  • Rheumabeschwerden
  • Immunschwäche
  • Vorbeugung gegen Grippe
  • Sommerschnupfen
  • Zur Abwehr von Stechmücken“

 

Ich hatte genug gelesen. Schlafen konnte ich nun allerdings auch nicht mehr. Gedanken kreisten in meinem Kopf. Der Bär. Enva. Süßholzwurzel und Zitronengras. Ich empfand so viel Liebe und Demut dieser Welt und ihren Wesen gegenüber, so viel Dankbarkeit, sie hören, sehen und fühlen zu können! Und wenn ich es kann, dann kannst auch du es hören, sehen und fühlen – das Flüstern zu dir!